QM
Rezension | 01.05.2019

Nichts ist so wie es scheint

Die folgende Rezension wurde von Johann Iffel verfasst und erschien am 01.05.2019 auf der Plattform DAS MILIEU. Im Folgenden ein 1:1 Abbild des veröffentlichten Artikels.

"Die Orte, die Du vermisst. Kehre niemals dorthin zurück.
Die Sehnsucht wird dir fehlen. Und die Orte sind nicht dieselben."
Mit diesen Worten beginnt der poetische Vorspann zu "Heimweh", dem sechsten Kapitel der Novelle von Qamar Mahmood.

Nichts ist so wie es scheint: Als die Journalistin an einem kalten Winterabend aus der Straßenbahn steigt, fällt Schnee vom Himmel. Viel Schnee. Noch ist es kalt genug, die Flocken landen unverflüssigt auf dem Asphalt. Aber das wird sich bald ändern. Als es Tage später erneut schneit, zweifelt die Journalistin plötzlich an der eigenen Wahrnehmung: Sind das echte Schneeflocken? Oder Staub, der apokalyptisch vom Himmel rieselt?

Als Leser erfährt man zunächst wenig über die Frau. Nur so viel: Sie ist jung, ehrgeizig und sie arbeitet an einem Porträt über einen berühmten Schauspieler. Eines Abends, nach einer Aufführung im Theater, darf sie ihn endlich begleiten. Eine folgenschwere Entscheidung. Der Schauspieler wird sich kurz darauf von einem Balkon stürzen.

Die Journalistin bringt das in eine missliche Lage. Sie war es, die den Schauspieler als Letzte zu Gesicht bekam. Sie war diejenige, die ihm immer neue Details aus seinem Privatleben entlocken wollte. Gut möglich, dass sie dabei eine Grenze überschritten hat. Zumindest fühlt sich die Journalistin mitschuldig am Tod des Schauspielers.

Das ist die Ausgangslage im Debütroman "Zwischen den Spiegeln" von Qamar Mahmood. Und gleichzeitig auch der Beginn einer vertrackten Suche nach der Wahrheit. Immer tiefer wühlt sich die Journalistin durch das Leben des Schauspielers. Sie sucht verzweifelt nach einer einfachen Erklärung für den mysteriösen Tod. Nur gibt es die nicht, so viel darf man verraten. Dafür sind die Abgründe zu groß, die mit der Zeit immer offensichtlicher werden. Und dafür hat Mahmood zu viel Spaß, die Erwartungshaltung seiner Leser immer wieder zu durchbrechen.

Wie im Zeitraffer schleust er sie durch ein filigran konstruiertes Spiegelkabinett. Wer glaubt, das Rätsel gelöst zu haben, auf den wartet nur die nächste, atemberaubende Wendung. Trotzdem ist "Zwischen den Spiegeln" weit mehr als ein gewöhnlicher Suspense-Thriller. An vielen Stellen blitzt eine subtile Gesellschaftskritik durch. Zum Beispiel am Anfang des Buches, als der Schauspieler bei seinem letzten Bühnenauftritt die große Lüge anprangert. Die Lüge, die sich Kapitalismus nennt und eigentlich längst entlarvt ist, aber von allen Beteiligten künstlich am Leben gehalten wird. Das Publikum im Theatersaal ist da keine Ausnahme.

Dann, ein paar Kapitel später, mutiert das Buch zunehmend zu einem Coming-Of-Age-Roman. Schuld sind die Recherchen der Journalistin, die sie immer tiefer in die Gefühlswelt des Schauspielers eindringen lassen. Und Wunden aus Kindertagen offenlegen, die nie ganz verheilt sind. Das führt womöglich am Ende dazu, dass jeder etwas anderes in diesem Buch erkennen wird. Die Lektüre wäre dann wie ein Blick in einen Wandspiegel, der beständig neue Realitäten zurückprojiziert. Ein reizendes Verwirrspiel, das Mahmood kunstvoll auf die Spitze treibt.

Gleichzeitig wird die Handlung immer wieder von tiefsinnigen Gedankenmonologen unterbrochen. Sie rütteln an den existenziellen Fragen, dem Vertrauen zwischen Menschen, dem Verhältnis zu einer höheren Macht. So gesehen passt auch die Bezeichnung, die Mahmood seinem Erstlingswerk gegeben hat. "Novelle" steht vorne auf dem Buchcover. Das könnte allerdings genauso gut eine falsche Fährte sein.

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