QM
Interview | 18.08.2019

Ein literarisches Labyrinth

Das folgende Interview erschien am 18.08.2019 in der Zeitschrift FILTER-Magazin. Im Folgenden ein 1:1 Abbild des veröffentlichten Interviews.

Was macht einen Menschen aus? Was bewegt ihn zum Sprung vom Balkon? Und welche Beziehung herrscht zwischen Wahrnehmung, Realität und Identität? Gleich einem poetischen Spiegelkabinett laviert Qamar Mahmood seine Leser durch die Abgründe eines renommierten Theaterdarstellers, dessen Leben sich nach und nach in kaleidoskopische Erinnerungssplitter auflöst. Symbol um Symbol zeichnet der Regensburger Debütautor ein Psychogramm einer gequälten Seele, das den Leser nicht nur Spielraum für eigene Theorien erlaubt, sondern mit einer Fülle an poetischen Bildern zum Träumen anregt. Wir haben uns mit dem in Niederbayern aufgewachsenen Sohn pakistanischer Einwanderer über seine Debüt-Novelle Zwischen den Spiegeln unterhalten.

Zu Beginn des Buches referiert der Protagonist in einem inneren Monolog über die „Lüge“. In welchem Verhältnis steht das Motiv der Lüge zum Inhalt?
Die Lüge ist ein interessanter Begriff, weil man mit ihr etwas als moralisch verwerflich verurteilt, obwohl die Lüge eigentlich etwas völlig Neutrales und Emotionsloses ist. Es kommt ja immer darauf an, ob man mit ihr jemandem Schaden zufügt. In meinem Buch spreche ich die Illusion an, der sich das Publikum hingibt. Deswegen kommt es auch ins Theater und schaut sich ein Stück an. Die Menschen wissen, dass es eine fiktive Geschichte ist und genießen dabei eben diesen Aspekt. Und da ist natürlich meine Hauptfigur, der Schauspieler, der retrospektive feststellt, wo er gerade im Leben steht und wofür sein Dasein gut ist. Und er ist gut darin, Lügen zu erzählen und damit Geld zu verdienen. Das ist zu Beginn auch das Einzige, was der Leser erstmal von ihm kennenlernt: seinen geistigen Zustand, wie er die Welt und die Menschen bzw. das Publikum sieht.

Eigentlich bist Du Grafikdesigner. Wie bist Du auf die Idee gekommen, ein Buch zu schreiben?
Die Idee mit dem Buch kam mir letztes Jahr, da ich mich ständig mit der Frage beschäftigt habe, was einen Menschen eigentlich ausmacht – sei es seelisch oder körperlich. Und dabei musste ich oft feststellen, dass der interessanteste Aspekt dabei immer folgende Tatsache ist: Wenn man zehn Personen befragen würde, wer man ist, würde jeder etwas anderes erzählen, weil man zu jeder Person eine andere Beziehung führt. Aber auch wenn sich die Aussagen widersprechen würden, ergeben sie letzten Endes ein stimmiges Gesamtbild. In der Werbebranche hat man sehr oft mit Zielgruppenanalysen zu tun, nämlich wie Werbebotschaften umzusetzen sind, damit sie von bestimmten Menschen oder Gruppen der Erwartung des Kunden entsprechend entschlüsselt werden können. Wenn man acht Stunden pro Tag damit beschäftigt ist, möchte man eben diese Methode auch nutzen, um eigene Botschaften zu vermitteln. Deshalb begann ich mit einem Gedankenmonolog über die Lüge – daraus ist dann alles gewachsen.

In Deinem Buch verwendest Du keine Namen. Auch die Figuren verweisen immer wieder darauf, dass es keiner Namen bedarf. Was steckt dahinter?
Da habe ich mir als Autor mit Sicherheit ein Experiment erlaubt. Da ich in meiner Novelle eine Persönlichkeit durch die Augen anderer durchleuchte und beurteile, war es wichtig, dass Namen außen vor bleiben, damit nur die Attribute und persönlichen Gefühlszustände der Figuren zur Geltung kommen. Deshalb war es für mich auch nicht notwendig, genauer auf die verschiedenen Figuren einzugehen, die über die Hauptfigur erzählen. Es geht immer nur um die Beziehung zum Protagonisten. Zu Beginn hatte ich beim Schreiben Namen verwendet, habe aber gemerkt, dass dadurch eine objektive Distanz für den Leser entsteht, welche kontraproduktiv für den Plot wäre. Dadurch mache ich es dem Leser nicht wirklich einfach, da ich ihn zwinge, immer wieder in die Ich-Perspektive zu wechseln. Aber das Ziel, ein Leben zu durchleuchten und durch die Augen anderer zu beurteilen, wir dadurch eher erreicht.

Für das Cover hast Du eine Feder gewählt. In der Novelle selbst kommt auch eine rote Feder vor…
Eine Feder hat eine bestimmte Struktur: eine schöne Mittellinie, die verschiedene Fächer verbindet, welche wiederum in einzelne Strukturen ausweichen. Ich sehe meine Geschichte ähnlich aufgebaut, da im Grunde alle Geschichten von einem Strang zusammengehalten werden, aber dennoch ihre eigenen verschiedenen Facetten behalten. Diese folgen wiederum keiner bestimmten Ordnung, vielmehr einem Chaos. Die einzige Ordnung, die vorherrscht ist die Mittellinie des Plots, die alle Fächer zusammenhält. Die Feder als Symbolik ist einfach ideal, um die ganze Geschichte in einem Bild visuell zu erfassen.

Du spielst in Deinem Buch mit gewissen Erwartungen und zeigst den Unterschied zwischen der Beobachtung eines Ereignisses und der Involvierung in ein Ereignis auf. Das referiert aber auch auf das Leben im Allgemeinen: Der Mensch macht sich zwar gewisse Vorstellungen, kann diese aber nicht wirklich auf ihren Wahrheitsgehalt prüfen.
Nehmen wir den Spiegel: Wenn man sich selbst im Spiegeln betrachtet, wird das rechte Ohr als linkes angezeigt – zugleich sieht man jedoch genau das, was andere in ein einem sehen. In meinem Buch gibt es beispielsweise ein Ereignis, das durch die Augen Fremder anders zu beurteilen ist, als es vielleicht in Wirklichkeit geschehen war. Eben durch diesen Irrtum, den man im Spiegel sieht, macht sich meine Figur jedoch erst auf die Suche nach der Wahrheit. Ohne diese Verwirrung hätte sie niemals die Notwendigkeit verspürt. Das zeigt uns, dass der Irrtum und das Chaos ihre Bedeutung haben: damit wir den Drang nach Ordnung und Aufklärung spüren und uns auf die Suche nach Antworten und der Wahrheit machen. Durch diese ganze Ungewissheit spiele ich natürlich mit den Erwartungen des Lesers. Aber ich hoffe, dass sich der Leser am Ende der Novelle auf emotionaler Ebene belohnt fühlt.

Dein Buch macht immer wieder Ausflüge ins Literarische mit teils unglaublich griffigen, originären Bildern. Wo holst Du Dir Inspiration?
Ich habe in den letzten Jahren Bücher gelesen, von denen ich gelernt habe, dass ich so niemals ein Buch schreiben würde. Vielleicht habe ich sie auch gelesen, um mich und meine eigenen Ideen differenzierter umsetzen zu können. Im Moment lese ich Christian Krachts „Imperium“ und versuche zu verstehen, warum er das Format für seine Geschichte ausgesucht hat, ob alles, was er schreibt, authentisch wirkt. Ob er es schafft, zu verhindern, dass ich hinter seine Kulissen blicke. Was ich immer noch sehr gerne lese, vielleicht auch deshalb, weil ich jetzt Kinder habe, ist „Der kleine Prinz“. Als Kind habe ich sehr oft „Sofies Welt“ gelesen, das war auch mein Einstieg in die Welt des philosophischen Schreibens. Bei den heutigen Büchern habe ich immer mehr das Gefühl, dass man um das Schreibens willen schreibt. Damit kann ich mich nicht anfreunden, das ist wohl auch der Grund, warum ich mein Manuskript um etwa 80 Seiten gekürzt habe. Alle Figuren, Gegenstände, Nebenhandlungen, die nicht aktiv zum Plot beitragen, gehören nicht hinein. Bei einem Roman funktioniert das natürlich anders. Ich lege als Autor sehr viel Wert auf Originalität, deshalb habe ich sehr viele Stellen gestrichen, bei denen ich mich dabei ertappt habe, diese von einem anderen Autor adaptiert zu haben. Die einzigen zwei Stellen, die ich nicht entfernt habe, sind auch mit ihrem Urheber referenziert. Ich kann nichts erschaffen, was meinen eigenen Ansprüchen an andere Autoren nicht gerecht werden könnte.

Ein Kernthema des Buches ist das Nicht-Erwachsenwerden, wobei nicht herausgestellt wird, weshalb jemand als nicht erwachsen betrachtet wird. Lediglich, dass es von der Umwelt gefordert wird.
Es geht um die Erwartungshaltung der Gesellschaft, in der man sich bewegt. Die Mitmenschen erwarten, dass man in einem bestimmten Alter gewisse Dinge tun sollte. Das würde sich gehören, z. B. muss man irgendwann Geld verdienen, um seine Familie versorgen zu können usw. Das ist definitiv wichtig, denn nur so funktioniert unser System. Aber das ändert nichts am tief im Unterbewusstsein begrabenen emotionalen Zustand eines Menschen. Im Falle meiner Geschichte ist es ein zutiefst trauriger Mensch. Und der Grund für seine Trauer liegt eben genau darin, dass er selbst denkt, er würde die Erwartungen der Welt nicht erfüllen. Warum das nicht möglich war, hat natürlich seine Gründe.

Du sagtest in einem Interview, dass Du weniger auf Dich als vielmehr auf Deine Eltern stolz bist.
Ich kann mich sehr gut an den Tag erinnern, an dem ich den ersten Fuß auf deutschen Boden gesetzt habe, obwohl ich erst dreieinhalb Jahre alt war. Ich kann mich an die ganzen Emotionen erinnern, als wir am Flughafen angekommen sind und an die Jahre im Asylheim usw. Und ich erinnere mich auch an viele Gesichtsausdrücke meiner Eltern, wie sie mit verschiedenen Situationen in einer völlig fremden Welt umgehen mussten. Ich denke mir – unter Rücksichtnahme auf den Inhalt meines Buches – all das, was ich tue, ist das Ergebnis ganz vieler Opfer, die meine Eltern erbringen mussten. Wozu sie „Ja“ und wozu sie „Nein“ sagten und ich als Rebell trotzdem gemacht habe. Jetzt liegt da ein Buch auf dem Tisch mit meinem Namen auf dem Cover, von dem sie vorher nichts wussten. Und sie können es aufgrund der sprachlichen Barriere nicht lesen. Aber ich kann sicher sein: Sie sind einfach stolz darauf und ich bin stolz auf meine Eltern, dass sie, ohne das Buch zu lesen, stolz auf mich sein können. Ohne zu hinterfragen, was da drinsteht und ob es überhaupt gut ist.

Und dann hast Du Dich genötigt, das Buch binnen zwei Monaten zu schreiben?
Es gab keine Deadline. Ich arbeite ja nach meiner Agenturarbeit noch spät nachts zuhause. Ich habe mich immer auf zwölf Uhr Mitternacht gefreut, weil ich wusste, dass dann alle schlafen und ich weiterschreiben kann. Und dabei lag kein Fokus darauf, wie schnell ich fertig werde und ob es ein Roman oder eine Novelle werden sollte. Es ging immer nur darum, dass ich mir tagsüber eine Idee im Kopf zusammengereimt hatte und jetzt wollte ich sie in aller Ruhe endlich zu Papier bringen. Das hat dann letzten Endes sechs Wochen gedauert.

Du hast in einem Interview erwähnt, dass Du Videos angesehen hast, um Dich besser in Frauen einzufühlen. Bist Du wirklich der Meinung, dass sich die Emotionalität von Männern und Frauen so sehr voneinander unterscheidet?
Sofern man das als Mann aus der Beobachtung heraus beurteilen kann, besitzen meiner Meinung nach Frauen einen interessanteren Zugriff auf ihre Emotionen. Männer haben den sicherlich auch, aber sie haben die Notwendigkeit, ihre Emotionen in Worten zum Ausdruck zu bringen, im Laufe ihres Lebens nach und nach verlernt. Bei kleinen Kindern hält sich dabei der Unterschied zwischen männlichen und weiblichen Personen noch sehr gering. Aber mit der Zeit – je nachdem wie stark das soziale Umfeld auf die Männer einwirkt – passiert es, dass die Männer immer weniger über ihre Emotionen sprechen. Da heißt es schnell: „Ach ist nicht so wichtig.“ Frauen haben da einen viel feineren Zugang zu ihren Emotionen und kommunizieren auch viel öfters über eben diese Ebene. Eigenartigerweise soll das auch ein weibliches Merkmal sein, von dem Männer meinen, sich unterscheiden zu müssen. Was ich bei meiner Recherche definitiv festgestellt habe, ist, dass Frauen in der Körpersprache viel facettenreiche sind als Männer. Ich habe mir verschiedene Sachen angeschaut, wie z. B. TED-Talks und einzelne Interviews von Regisseurinnen und Journalistinnen. Dabei habe ich den Ton abgeschaltet und zwei bis drei Minuten einfach nur die Gestik und Mimik beobachtet. An welchen Stellen Augenbrauen hochgezogen werden usw. Bei zwei Minuten einer Frau konnte ich zehn unterschiedliche Strukturen in Gestik und Mimik feststellen, bei einem Mann wären es lediglich zwei verschiedene in der gleichen Zeitspanne.

Hat sich Deine Wahrnehmung durch das Schreiben verändert?
Ich glaube, Beobachtung hat bei mir schon immer eine wichtige Rolle gespielt – jetzt konnte ich meine Fähigkeit mal für etwas einsetzen. Es liegt mir sehr am Herzen, früh genug echte Zufriedenheit oder tief verankerte Traurigkeit zu erkennen – das ist nur möglich, wenn man genau zuhört und auf Details achten kann. Bereits als Kind fiel mir das leicht und ich freue mich, wenn sich diese Fähigkeit bis heute besser ausbauen ließ.

Wie bist Du auf das Format der Novelle gekommen?
Erst einmal habe ich nur geschrieben. Wie lang es wird, ob es ein Roman ist oder eine Novelle, war zweitrangig. Nachdem ich fertig war, habe ich das Geschriebene eine Woche liegen gelassen, um Abstand gewinnen zu können. Anschließend konnte ich feststellen, dass ich auf einen zentralen Punkt hingeschrieben habe. Mir kam die Schachnovelle (von Stefan Zweig, Anm. d. Red.) in den Sinn und ich begann, mein Buch mit anderen zu vergleichen, um festzustellen, wo es einzuordnen wäre. Als ich verstanden habe, worauf es bei einer Novelle ankommt und ich fast alle Merkmale in meinem Buch wiederfinden konnte, wurde mir klar, was auf dem Cover stehen muss. Bei ca. 160 Seiten und entsprechend der eingesetzten Erzählweise funktioniert eine Novelle natürlich am besten, wenn man sie in einem Rutsch liest.

Foto: © FILTER Verlag

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